Sonntag, 9. Juni 2013

Der Funktionär

Heute feiert einer der »ersten Männer der zweiten Reihe« aus der ehemaligen DDR-Nomenklatur seinen Neunziger: Gerald Götting, früherer Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Generalsekretär und Vorsitzender der CDU der DDR, eine Zeit lang Präsident, später Vizepräsident der DDR-Volkskammer und Präsident der »Liga für Völkerfreundschaft«. Ein, möchte man nach dieser beeindruckenden Aufzählung von Titeln und Funktionen sagen, wichtiger Mann.

Nun, in der DDR war das — wohl überall auf der Welt nicht unbekannte — System, Menschen und ihre Umwelt durch volltönende Titel über die relative Bedeutungslosigkeit ihrer Tätigkeit hinwegzutäuschen, bis zur Perfektion entwickelt. Vor allem der bis in alle Ebenen durchgezogene Parteienpluralismus, der freilich auf die faktische Alleinherrschaft der SED nur in marginalen Nuancierungen Einfluß nehmen konnte (getreu nach Ulbrichts Diktum: »Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben«) konnte den naiven Beobachter durchaus täuschen, und ihm eine Bedeutsamkeit vorgaukeln, die bloß auf dem Papier stand. Doch Hand aufs Herz: ist es in unseren ach so demokratischen Verhältnissen denn anders? Sind unzählige Verfassungsbestimmungen, beispielsweise, daß das Parlament die Regierung kontrolliere, oder der Abgeordnete ausschließlich seinem Gewissen verantwortlich sei (»freies Mandat«) auch nur einen Deut weniger Phrase?

Doch kehren wir zu unserem neunzigjährigen Geburtstags»kind« Gerald Götting zurück: zweifellos war er ein wichtiger, ein mächtiger Mann — aber eben nur in seiner eigenen Partei! In der Außenwirksamkeit teilte er getreulich deren Ohnmacht gegenüber dem tonangebenden Politbüro und (als offiziell höchstes, doch faktisch weit abgeschlagen bloß zweitrangiges Organ der SED) Zentralkomittee. Wer biographische Fakten über ihn sucht, findet sie (wie gewohnt etwas unsystematisch) in der Wikipedia, oder strukturierter auf der Seite der Konrad Adenauer Stiftung, vor zwei Jahren erschien außerdem eine wohlgelungene »politische Biographie« von Peter Joachim Lapp (»Gerald Götting. CDU-Chef in der DDR«) — und diese schneidet auch das Problem an, dessentwegen hier bei LePenseur dieses Politikers gedacht wird: es geht um die in der Person Gerald Göttings geradezu paradigmatische Verwirklichung des »politischen Prinzips«, des »Berufspolitikers«, des »Funktionärs«! Denn genau dieser Typus ist es, der uns heute in seiner »alternativlosen« Erscheinung aus den Polit-Zirkeln auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene nur zu vertraut ist.

Politik wird eben nicht gemacht, um das Gemeinwohl zu fördern, einer staatsbürgerlichen Pflicht nachzukommen, nicht einmal, um politische Ideen zu verwirklichen, an denen einem was liegt. Politik wird gemacht (und genau so gemacht!), um im Politzirkus weiter mitmachen zu können, als l'art pour l'art an den Futtertrögen, immer zitternd von der nächsten Meinungsumfrage, dem nächsten Interventionsversuch irgendeiner Pressure-Group ...

So gesehen nimmt sich freilich die Entscheidung Göttings, als Generalsekretär (und später auch Vorsitzender) einer sich »christlich-demokratisch« nennenden Partei sich dem Diktat der SED-Bonzen zu unterwerfen und bei ihren Versuchen, der Bevölkerung ein sozialistisches Regime aufzuzwingen, mitzumachen, noch direkt ehrenhaft und charaktervoll aus! Denn seine Alternativen hätten Emigration (wie z.B. Lemmer) oder Strafverfolgung (wie bei Dertinger) gelautet — zu glauben, daß ein stalinistisches SED-System einen politisch dissidenten »Ex-Generalsekretär« der CDU einfach ungeschoren »als Privatmann« hätte weiterleben lassen, wäre wohl zu naiv! Und nur, wer wegen seiner politischen Überzeugung selbst emigrieren, oder Strafverfolgung hinnehmen mußte, hätte m.E. das Recht, auf Götting den ersten Stein zu werfen.

Interessant ist freilich, wie unterschiedlich sich der politische Lebenslauf Göttings seit ca. 1980 im Vergleich mit dem Manfred Gerlachs, des vor eineinhalb Jahren verstorbenen Vorsitzenden der LDPD, ausnimmt. Gerlach, der in seiner sehr lesenswerten Autobiographie »Mitverantwortlich. Als Liberaler im SED-Staat« (Berlin 1991) offen eingesteht, daß er sich in den 50er- und 60er-Jahren recht illusionäre Vorstellungen über ein sozialistisches Gesellschaftsmodell machte, in dem er auch eine »Vollendung« liberaler Überzeugungen erblickte (die daher darin auch weiterhin Platz hätten!), Manfred Gerlach nun entwickelte gegen Ende der 70er-Jahre zwar vorsichtig formulierte, doch klar erkennbare Reformvorstellungen, von denen er trotz des Abblockens Honeckers auch in den 80er-Jahren nicht mehr abrückte, sondern sie vielmehr mit zäher Geduld wieder und wieder (und durch die Politik der ersten Jahre Gorbatschows gestützt) vorbrachte. Götting hingegen blieb — und das ist bei der Lektüre seiner zahlreichen Reden und Aufsätze klar erkennbar — irgendwie in der »Friedensrhetorik« de 70er-Jahre stecken, und garnierte diese bloß mit wechselndem nebulosen Floskelwerk. Offenbar war er bis knapp vor dem Ende der DDR davon überzeugt, daß die Sowjets das SED-Regime schon aus Prestigegründen nie fallen lassen würden — eine Fehleinschätzung, die die ökonomische Zwangslage der UdSSR nicht ins Kalkül zog. Gerlach als »Liberaler« hatte da offensichtlich den besseren wirtschaftlichen Sensus ...

Dennoch: die Art, mit der man im Westen ebenso wie in der DDR in Wendezeiten mit Götting umging, war nicht gerechtfertigt, und durchaus geeignet, ihn in eine Einigelung zur Selbstverteidigung zu treiben. Kleinliche Schikanen (wie bspw. die Aberkennung und Abholung verliehener DDR-Orden) wechselten mit übertriebenen Medienberichten über Goldschätze und Briefmarkensammlungen, die Götting zu einem der reichsten Männer der DDR stilisieren sollten. Partei»freunde«, die ihm noch kurz zuvor applaudierten, erkannten schlagartig:
Das Parteileben gestaltete sich eigentlich nach den Anweisungen von Gerald Götting, der kein CDU-Politiker im eigentlichen Sinne mehr war, sondern ein Vertreter der Besatzungsmacht in der Partei. (zit nach Ralf G. Jahn: Die Geschichte der CDU in der DDR)
Nun, derlei pflegt bei Politikern überall vorzukommen (Österreichs Handelsminister Robert Graf meinte mit Recht etwas sarkastisch: »Wer als Politiker einen Freund sucht, sollte sich einen Hund halten«), aber bei Gerald Götting war sicherlich die Schäbigkeit, mit der nicht nur Parteifreunde und Politiker ihn blitzartig wie einen Pestkranken mieden, sondern auch hohe kirchliche Würdenträger, die sich jahrelang in herzlichen Glückwünschen zu Geburtstagen und Jubiläen ergingen, besonders eklatant. Und erst über die unrühmliche Rolle der Medien sei hier besser geschwiegen ...

Anders als in Deutschland war Götting nach der Wiedervereinigung in den USA mehrmals gern gesehener Gast — ein Patensohn, mit einer Amerikanerin verheiratet, brachte ihn mit diverser Polit-Prominenz zusammen, u.a. mit der Familie Bush (sen.); man dachte sogar über UNO-Tätigkeiten, z.B. eine (ehrenamtliche) Vermittlertätigkeit zwischen Indien und Pakistan, nach. Diese Pläne zerschlugen sich, da Götting erkennen mußte, daß derlei Ambitionen die inzwischen gesamtdeutsche Politik irritieren würden.

Nach verschiedenen juristischen Querelen um sein Haus in Berlin-Köpenick und sein Landhaus, dessen Errichtung ihn Jahrzehnte später sogar in einen Strafprozeß verwickelte, lebt Götting ebenso verfemt wie zurückgezogen als Rentner in Berlin. Seine Pläne, zum 85. Geburtstag mit einer Autobiographie an die Öffentlichkeit zu treten, wurden durch seine zunehmende Sehbehinderung vereitelt. Deshalb war er auch bereit, Peter Joachim Lapp die reichen Archivalien, die er über sein ganzes Leben hinweg zusammengetragen hatte, zur Verfassung einer Biographie zur Verfügung zu stellen. Nach Abschluß dieses Buches wurde das Material an das Stadtarchiv seiner Heimatstatdt Halle übergeben.

Was also bleibt im Rückblick auf ein solches Funktionärsleben zu berichten? Peter Lapp bringt es in drei Sätzen auf den Punkt:
Er half auf jeden Fall mit, christliche Werte und Traditionen in der atheistisch gewollten Umwelt der DDR zu bewahren. Und er hat durch diverse infomrelle Vorschläge gegenüber SED-Verantwortlichen manche Härten für Bürger abstellen oder abschwächen und in vielen Einzelfällen individuell helfen können. Aus heutiger Sicht mag das wenig bedeutsam gewesen sein, seinerzeit hat das vielen Menschen konkret und nachhaltig geholfen. (Lapp, op.zit. S 96)
»Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühsal und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon«, seufzt der Psalmist. Gerald Göttings Leben war sicherlich nur im übertragenen Sinne »Mühsal und Arbeit«. Dennoch, auch wenn es die »achtzig Jahre« mit heutigem Tag um zehn übertrifft — es fährt schnell dahin. Götting meint in einem der Manuskripte, die er seinem Biographen zur Verfügung stellte, ihm erschiene »die Zeit in der DDR wie ein geschichtlicher Traum, der nur unterbrochen wurde«. Und orakelt über eine »neue sozialistische Alternative zum Kapitalismus«.

Wenn man sich freilich die Entwicklungen in der EU so ansieht — es steht zu befürchten, daß Götting damit rechthaben könnte! Was man ihm aber fairerweise nicht vorhalten darf, denn er ist sicherlich denkbar unschuldig daran. Deshalb:

Herzlichen Glückwunsch zum Neunziger!

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

"... oder der Abgeordnete ausschließlich seinem Gewissen verantwortlich sei (»freies Mandat«) auch nur einen Deut weniger Phrase?"

Korrekt!
Wobei ich mich stets frage:
1.) Woher die optimistische Annahme, daß jeder Abgeordnete überhaupt ein Gewissen hat?
2.) Und wenn er eines hat, wer garantiert, daß es nicht käuflich oder mietbar ist?

Kann es sein, daß die Demokrat(t)en bereits von Anfang an lügen und das System daher keinen Fehler hat, sondern selbst der Fehler ist?

Und die Demokratiegläubigen arbeiten sich zeitraubend an den vermeintlichen Fehlern ab ...

Kreuzweis